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Interview mit Digitalvordenker Karl Heinz Land

„Alles, was sich digitalisieren lässt, wird auch digitalisiert“: Waren und Services dematerialisieren sich

 

Als konkrete Folge der digitalen Transformation schaffen sich bestimmte Waren und Services selbst ab. Sie werden überflüssig, sie dematerialisieren sich. Was das heißt und welche enormen Auswirkungen das auf Unternehmen jedweder Art und Größe hat, weiß Buchautor und digitaler Vordenker Karl Heinz Land.

Herr Land, was bedeutet Dematerialisierung überhaupt?

Alltägliche Dinge verlieren ihre Gestalt und werden zur Technologie. Das heißt, sie verlieren ihre physischen Dimensionen und Begrenzungen wie Zeit oder Gewicht werden in eine Software oder App transformiert. Etwa Schlüssel, gedruckte Tickets oder beispielsweise die Kreditkarte.

Das heißt doch aber im Umkehrschluss, dass bestimmte Dinge niemals dematerialisiert werden: Auf mein Brötchen vom Bäcker um die Ecke werde ich auch in Zukunft nicht verzichten wollen?

Auf das Brötchen sicherlich nicht. Aber die Frage ist: Wird das in fünf Jahren auch noch derselbe Bäcker sein? Meine Grundthese ist, dass alles, was sich digitalisieren lässt, auch digitalisiert wird. Deshalb müssen sich Unternehmen erstens fragen, ob es für ihre Dienstleistung, ihr Produkt auch eine digitale Form gibt. Und selbst wenn nicht – siehe ihr Brötchen-Beispiel – müssen diese Firmen ihre Position in der Wertschöpfungskette klären und eruieren, wo dort gegebenenfalls ein Bruch entstehen kann. Heute macht ein solcher Handwerksbetrieb etwa mit Wurfzetteln und Anzeigen auf sich aufmerksam. In wenigen Jahren kommt derjenige Bäcker bei Ihnen zum Zuge, der Sie per Beacons beim Vorbeigehen gezielt anspricht und Ihnen ein sprichwörtlich schmackhaftes Angebot macht.

Und eine solche Zukunftsvision ist nicht zu abgehoben?

Keinesfalls. Smartphones werden heute primär für Mail, Telefon, Fotos und für Soziale Netze genutzt. In fünf bis zehn Jahren gehören aber die Digital Natives, die mit diesem Geräten aufgewachsen sind, zum Management. Die erwarten dann zusätzlich andere Services auf ihren Smartphones wie Ticketing oder Zahlung via NFC. Die Genese ist dann vom Smartphone zum Smart-Terminal. Unternehmen müssen sich also die Frage stellen, wie ihre Kunden künftig mit ihnen kommunizieren und Geschäfte machen wollen. Entscheidend ist dabei nicht, was ein Unternehmen will, sondern, was der Kunde will. Auf welchem Kanal er Präsenz einfordert. Und wenn eine Organisation dort nicht vertreten ist, dann hat sie ein Problem.

Und das gilt für alle Branchen?

Absolut. Nehmen Sie beispielsweise den Handel. 20 Prozent des Einzelhandelsumsatzes, mit Ausnahme von Lebensmitteln, werden heute bereits digital erwirtschaftet, das zeigt die Dimensionen, in denen wir uns bereits bewegen. Und warum ist das so? Weil es bequem ist. Convenience wird der größte Treiber der Dematerialisierung hin zum E-Commerce werden. Wichtig dabei wird es sein, die Kundenerfahrungen aus dem Internet in das Ladenlokal zu übertragen. In der Art und Weise etwa, dass die Loyalty-App auf dem Handy dem Kunden bereits bei Betreten des Geschäfts passende Angebote unterbreitet à la: „Den Wein, den Du letzte Woche gekauft hast, bekommst Du heute zwei Euro günstiger“.

Okay, das mag ja im Handel durchaus seine Berechtigung haben, aber im klassischen Maschinenbau etwa und der sehr sachorientierten Kundenbeziehung doch nicht, oder?

Wie ich anfangs bereits sagte, kommt es darauf an, die gesamte Wertschöpfungskette auf Dematerialisierung hin zu untersuchen. Und das gilt auch für Beziehungen zwischen Unternehmen: Ein Kunde von uns ist ein Möbelbauer, der Küchen für ein großes skandinavisches Möbelhaus fertigt. Und wenn dort eine Küche an der Kasse bezahlt wird, dann läuft bei unserem Kunden in dieser Sekunde automatisch die Bestellorder ein, und die Maschinen laufen. Um es kurz zu fassen: Convenience weckt Begehrlichkeiten, in B2C und B2B. Und wenn einer mit solchen Services anfängt, müssen die anderen nachziehen.

Wie kann ich solche automatisierten Abläufe im Unternehmen bewerkstelligen?

IT ist hierfür der wichtigste Möglichmacher. Sie muss aber auch die verstofflichte und die dematerialisierte Welt sauber integrieren können. Wenn der Chef des Onlinehandels nicht weiß, was der Chef der Filialbetriebe macht, dann kann das nicht funktionieren. Mit der schwerfälligen alten Legacy-IT werden sich solche integrierten Modelle nicht mehr verwirklichen lassen, hier muss die IT schneller liefern. Basis sind vielfach cloudbasierte Apps.

… das passiert in der Realität noch nicht?

Es gibt Unternehmen, da kennt das ERP nicht das CRM-System, also das Rechnungswesen nicht die Kundendatenbank. Auf diese Weise kommt dann natürlich ständig Ruckeln im Getriebe – wie will ich da eine anständige Kundenerfahrung erzeugen? In vielen Betrieben wird die IT auch nur als Kostentreiber und nicht als Möglichmacher gesehen. Es braucht für mein Empfinden mehr CEOs, die die Rolle der IT als Antreiber für die Digitalisierung anerkennen.

Eigentlich müsste die von Ihnen angesprochene Rolle der IT doch längst klar sein, gerade in Industriebetrieben, Stichwort Industrie 4.0?

Industrie 4.0 – das geht mir gar nicht weit genug, denn es betrachtet nur das Unternehmen als solches, das produzierende Gewerbe. Tatsache ist aber, dass wir über Wirtschaft 4.0 reden müssen, die so genannte Weltmaschine. Künftig wird alles vernetzt sein. Wir treten in das Zeitalter der Sensorökonomie ein. Und genauso wie alles, was sich digitalisieren lässt, digitalisiert werden wird, wird alles, was sich automatisieren lässt, automatisiert werden.

… was letztlich zu einer gigantischen Schwemme von Big Data führen wird?

Ja, denn um die Abläufe schlank und reibungslos dematerialisieren zu können, muss man diese gewaltigen Datenmengen sauber analysieren. Die Bedeutung von Big Data ist also riesengroß. Denn wenn alles digitalisiert ist, hinterlässt ja auch alles Spuren oder besser Daten hinterlassen Spuren. Und Daten erzeugen Relevanz, aber nur dann, wenn ich den Kunden kenne.

Das bedeutet aber doch im Umkehrschluss, dass der Kunde mir gegenüber absolut transparent ist?

Da dürfen wir uns nichts vormachen. Maßgeschneiderte Angebote können sie nur dann bekommen, wenn die Unternehmen wiederum ihre Präferenzen kennen. Ansonsten bleibt es beim 2.000-Seiten-Katalog. Aber in Wirklichkeit ist das kein Problem …

… warum?

Der Konsum ist mehr und mehr geprägt vom „Ich-alles-sofort-und-überall-Prinzip“. Kunden wollen heute maßgeschneiderte Angebote, eine persönliche und korrekte Ansprache, Services und Waren in bester Qualität überall und immer. Ebenso wissen sie aber, dass sie dies nur bekommen können, wenn sie sich mir gegenüber öffnen. Halte ich allerdings als Unternehmen fünf Regeln ein beim Datensammeln und -auswerten, entsteht eine Win-Win-Situation.

Und diese Regeln wären?

Ich muss transparent sein und dem Kunden gegenüber offenlegen, wofür ich die Daten brauche. Das Datensammeln muss verhältnismäßig sein und nur das einfordern, was für die konkrete Dienstleistung benötigt wird. Es muss hohe Datensicherheit herrschen und ein Prinzip der Umkehrbarkeit. Das heißt, wenn der Kunde abschaltet, ist unwiderruflich Schluss. Last but not least darf alles nur „permission based“ geschehen, also nur mit expliziter Zustimmung des Kunden. Halten Unternehmen diese fünf Regeln ein, dann bin ich guter Dinge, dass der Eintritt in die dematerialisierte Welt zum Nutzen aller Beteiligter geschieht.