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Interview mit Julia Probst, Bloggerin und Barrierefreiheitsaktivistin

Für Gehörlose hat das Internet viele Barrieren aus dem Weg geräumt!

Wie ca. 80.000 Menschen in Deutschland, ist Julia Probst gehörlos. Bekannt wurde sie dadurch, dass sie einen „Ableseservice“ bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2010 einführte. Hierbei las sie die Worte des Bundestrainers Joachim Löw während der Spiele von seinen Lippen ab und twitterte, was dieser während der Spiele so von sich gab. Geboren wurde Julia Probst in den 1980er Jahren und hat somit die Anfänge der Digitalisierung bis heute miterlebt. Im Interview redet sie über ihre Erfahrungen und Zukunftsvisionen in puncto Barrierefreier IT und welche neuen Möglichkeiten sich für sie durch das Internet ergeben haben.

Im Zuge der Digitalisierung: Was waren die bahnbrechendsten Neuerungen für Sie und was für Folgen hatten sie für Sie?

Die Digitalisierung hat mich davor gerettet, mich an die damalige Norm anpassen zu müssen, und mich ermutigt, das zu machen, was ich für richtig halte. Im Jahr 1994 habe ich ein Cochlea-Implantat bekommen. Das ist eine Hörprothese für Gehörlose, die sozusagen die Funktion des beschädigten Innenohrs übernimmt und die Audiosignale ans Gehirn überträgt. Während alle anderen total begeistert davon waren, dass ich damit nun auch in der Lage sei zu telefonieren, war mir das irgendwie gar nicht so wichtig. Denn ich habe damals schon geahnt, dass die bevorstehende Verbreitung des Internets – mit all seinen Möglichkeiten – ein wichtiger Meilenstein für mich und die gesamte barrierefreie Kommunikation werden würde. Und siehe da: Zwei Jahre später war ich – genau wie meine hörenden Freunde – online und konnte mit ihnen über den Chat kommunizieren. Das war nicht nur praktisch für mich, sondern ein großer Schritt in die Eigenständigkeit. Und so hing mein Teenager-ICH eben vor dem PC wie andere in dem Alter am Telefon. Ich kann mich noch daran erinnern, wie meine Mutter mich immer ermahnte: "Denk daran, nach 18 Uhr ist das Internet billiger!" Das waren eben noch ganz andere Zeiten. 1997 hatte ich dann mal wieder eine Kontrolluntersuchung wegen des Cochlea-Implantats. Das Gespräch mit dem Arzt damals werde ich wohl nie vergessen. Er konnte einfach nicht verstehen, warum ich das Implantat kaum noch benutzte, obwohl ich doch damit telefonieren konnte und das im Berufsleben ja so wichtig sei. Ich erklärte ihm dann, dass ich lieber mit meinen Freunden chatte und man in Zukunft sowieso vieles per Mail erledigen würde. "Aber bis dahin dauert es ja noch", erwiderte er dann‚ "das Telefon ist das wichtigste Werkzeug und deswegen ist es so wichtig, dass du telefonieren kannst. Das Cochlea-Implantat ist doch eine Chance für dich." Das sah ich allerdings anders, denn ich wusste schon damals, dass das Internet für viele Leute zu einem wichtigen Werkzeug werden wird.

Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung heute auf Ihren Alltag?

Für uns Gehörlose hat das Internet sehr viele Barrieren aus dem Weg geräumt, wobei ich dazu sagen muss, dass einige natürlich immer noch da sind. Auch im Internet. Der Chat hat das Faxgerät und das Schreibtelefon ersetzt, dann kam das Handy und mit dem Handy die SMS. Das war der Zeitpunkt, an dem ich endlich meine Dates selber ausmachen konnte. Davor war ich immer auf andere angewiesen, denn es musste immer jemand für mich anrufen, wenn ich mich verabreden wollte. Ich sah schon meine Mutter oder die Erzieherin im Internat mit meinem Schwarm telefonieren: "Die Julia würde gerne mit dir ins Kino gehen." Aber das Internet und mein erstes Handy haben mich zum Glück vor solchen peinlichen Situationen gerettet.

Gibt es auch Hürden, die Ihnen seitdem begegnen?

Es gibt natürlich auch Hürden, die immer noch da sind. Zum Beispiel Notfalldiensthinweise. Da steht Folgendes: "Die Adresse und Zeiten des zuständigen Notfalldienstes am Wochenende können Sie unter dieser Nummer telefonisch erfragen." In den Zeiten der Digitalisierung müsste es doch ein Kinderspiel sein, die Adressen des ärztlichen Notfalldienstes je nach Bereitschaft einpflegen zu lassen.
Ein anderes Beispiel: für die meisten Gehörlosen ist Gebärdensprache die Muttersprache. Die meisten Informationen liegen allerdings gar nicht in Gebärdensprache vor. Die Anzahl der Videos in Gebärdensprache nehmen zwar zu, aber es wird immer noch selektiert, welche Informationen Gehörlosen zugänglich gemacht werden und welche eben nicht.

Was müsste sich Ihrer Meinung nach noch ändern? Wo liegen die größten Schwächen unseres Systems beim Thema Barrierefreiheit?

Was mich immer wieder ärgert: Die Bundesregierung hat zwar bei einigen Angeboten einen Service in Gebärdensprache im Angebot, wie zum Beispiel Bürgertelefon oder Hilfetelefon gegen Gewalt. Dort ist jedoch keine Plattformfreiheit gegeben: Man muss Windows haben, um den Dienst nutzen zu können – mit Mac oder Linux kann das Angebot nicht genutzt werden.
Barrierefreiheit ist auch Plattformfreiheit. Barrierefreie Angebote sollten daher jederzeit auf jedem Betriebssystem zur Verfügung stehen.
Ich finde es auch schade, dass beim Erstellen der Homepages nur selten an Barrierefreiheit gedacht wird. Vor allem blinde Nutzer stehen dadurch häufig noch vor großen Schwierigkeiten. Aber auch bei uns Gehörlosen ist es oft so, dass nicht an Infos in Gebärdensprache gedacht wird.

Was für eine Zukunftsversion haben Sie bezüglich der Barrierefreiheit?

Es ist falsch anzunehmen, dass von Barrierefreiheit und der dadurch entstehenden Inklusion nur Menschen mit Behinderungen profitieren werden. Alle profitieren davon. Zum Beispiel beim Thema Facebook-Videos: Diese werden jetzt vermehrt untertitelt, weil die meisten Menschen den Ton auf ihren Smartphones ausgeschaltet haben. Laut "brand eins" liegt der Anteil der Facebook-Videos, die ohne Ton abgespielt werden, bei 85 Prozent. Ich wünsche mir also, dass Barrierefreiheit – und somit Inklusion – bei jedem Projekt von Anfang an berücksichtigt und umgesetzt wird. Weil wir uns Ignoranz und Diskriminierung nicht leisten können. Besonders wenn man bedenkt, dass 95% der Menschen mit Behinderung nicht von Geburt an behindert sind, sondern diese im Laufe des Lebens erwerben. 
Meine Zukunftsvision ist, dass durch die digitalen Impulse Barrierefreiheit eine gesellschaftliche Aufgabe wird und so folgendes soziales Modell von Behinderung umgesetzt wird: "Wir machen die Barrieren weg, denn DIE sind das Problem. Nicht der Mensch mit Behinderung."