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Interview mit Prof. Dr. Klemens Skibicki

Social Media: „Nur sozial angereicherte Daten zählen“

 

Soziale Medien werden heute immer noch von einigen Unternehmen unterschätzt, dabei spielen sie im Kontext der Digitalen Transformation eine wesentliche Rolle. Warum sie eben mehr sind als ein „digitaler Kaffeklatsch“ und tief in die gesamten Unternehmensprozesse integriert sein sollten, weiß Prof. Dr. Klemens Skibicki.

Herr Prof. Skibicki, Ihrer Meinung nach spielen Social Media auch im Kontext der Digitalen Transformation eine gewichtige Rolle, warum?

Hierzulande reduziert man Social Media zu oft auf ihre unterhaltende Funktion oder als einen Kanal für den Kundendialog in Marketing, Service oder Recruiting. Somit unterschätzen viele Beteiligte ihre Bedeutung. Soziale Medien muss man ganzheitlich betrachten, weil sie es sind, die die vernetzten Strukturen in Politik, Gesellschaft und Unternehmen auf ein neues Level heben: Es handelt sich um eine grundsätzlich neue Kommunikationsinfrastruktur und Kulturtechnik, die mit der „einseitigen Senderichtung“ des Massenkommunikationszeitalters nichts mehr zu tun haben. Die Perspektive ist heute bei vielen Entscheidern in Politik und Wirtschaft leider einfach zu eng.

Inwiefern?

In Deutschland unterliegt man bei der Diskussion noch zu sehr einer ingenieurwissenschaftlich geprägten Sichtweise. Im Kontext des „Internets der Dinge“ heißt es immer wieder „Daten sind das Öl des 21. Jahrhunderts“ – und das finde ich falsch, weil es viel zu kurz greift. Stattdessen sollte gelten: „Sachdaten und sozial vernetzte Daten, die über das mobile Internet verknüpft werden, sind das Öl des 21. Jahrhunderts“. Am Ende treffen Menschen die Entscheidungen und haben dabei in digital-vernetzten Ökosystemen immer und überall Zugriff auf Sachdaten und die Informationen anderer Menschen aus ihrem jeweiligen sozialen Umfeld. Beide Komponenten formen das „Internet of everything“.

Können Sie Beispiele dieser sozial angereicherten Daten geben?

Sicher, die gesamte Smart Home-Entwicklung basiert darauf. Erst durch die Einflussgröße Mensch, die dort lebt, heizt, isst und sich mit Bekannten austauscht kommt es zu einer nutzenstiftenden Aktion von vernetzten Geräten. Oder Zukunftsszenarien des Einzelhandels: In wenigen Jahren kommuniziert mein Wearable beispielsweise mit der Lebensmittel-Verpackung und teilt mir mit, dass auch zwölf meiner Freunde und meine Kinder diesen Joghurt gekauft haben oder, dass ich dagegen allergisch bin. Das eine ist der automatisierte Abgleich der Produktinhaltsstoffe mit meinen individuellen Gesundheitsinformationen, das andere mit den Hinweisen meines sozialen Umfeldes dient als Ratgeber. Beides wird gegebenenfalls Einfluss auf meine Kaufentscheidung haben.

Also eine wichtige Komponente im gesamtökonomischen Kontext?

Absolut, denn die sozialen Netze sind Treiber und zugleich Filter der unternehmerischen Botschaft. Vor allem in Zeiten des totalen Informationsüberflusses nutzen Menschen zunehmend andere Menschen, die sie kennen oder wenigstens wie sie selbst auf der Nachfragerseite stehen, um Entscheidungen zu treffen. Viele Produkte werden immer mehr im sozial individuell gefilterten Kontext gekauft: „Was empfehlen mir meine Freunde?“ oder „Kunden, die einen ähnlichen Geschmack haben wie ich, haben auch dieses Produkt gekauft oder geliked“. Social Media ist dabei die einfachste Brücke zur „sozialen Haftungsgarantie“: Bekannte, die etwas empfehlen, was sie nicht wirklich gut finden, riskieren, ihre Glaubwürdigkeit im Freundeskreis zu verlieren. Deswegen vertrauen wir im Zweifelsfall lieber diesen Bekannten als Unternehmen, die uns „nur“ etwas verkaufen wollen. Dies war auch früher schon so, aber Social Media vereinfachen die Transparenz solcher Empfehlungen. Und das gilt nicht nur für Produkte, die sich an Endanwender richten. Auch der Einkäufer in einem Unternehmen, der Investitionsgüter für mehrere Millionen Euro beschafft, ist nur ein Mensch, der letztlich individuelle Kaufentscheidungen trifft.

Welche Konsequenzen haben derlei Szenarien für Unternehmen?

… dass sich ihre gesamten Wertschöpfungsketten in über Unternehmensgrenzen hinausgehende Wertschöpfungsnetze einbetten müssen. Von der einseitigen Push-Kommunikation kommend, müssen sie sich nun in sozial strukturierten Ökosystemen zurechtfinden. Sie mögen über ihre Werbung weiterhin ein Markenversprechen abgeben können, in den sozialen Netzen online wie offline werden sie aber auf die Probe gestellt, ob sie dieses Versprechen tatsächlich auch halten können. Es muss also ein entscheidender Paradigmenwechsel stattfinden …

… der da wäre?

Es hat durch die gesteigerte Austauschmöglichkeit von Menschen in Social Media untereinander eine Marktmachtverschiebung hin zur Nachfrageseite stattgefunden, der man sich als Unternehmen stellen muss. Man sollte Zeit aufzuwenden, um den Menschen zuzuhören statt Wege zu finden, Zeit im Kundenkontakt einzusparen. In Personalabteilungen oder Call Centern ging es die letzten Jahre immer mehr um Effizienzsteigerung. Jetzt aber gilt es hingegen, Kunden und Bewerbern beispielsweise in den digitalen Welten intensiv zuzuhören und diese in Entscheidungen einzubinden.

Gilt dieser Prozess auch für die komplexe Welt der B2B-Beziehungen?

Gerade dort, denn hinter dem einzelnen B2B-Entscheider stehen pro Kopf meist höhere Umsatzvolumina. Die einzelne Beziehung zum Kunden ist also umso wertvoller. Auf LinkedIn etwa sind weltweit 347 Millionen Nutzer unterwegs und führen dort Fachgespräche. Das Funktionsprinzip in diesem reinen Business-Netzwerk folgt dabei dem von Facebook nur dass es eben um Geschäftskontakte geht. Zu glauben, Social Media ist vor allem für den B2C Kontext relevant, ist so absurd wie die Aussage, dass man am Telefon ausschließlich Privatgespräche führen könnte. Hier sollten Unternehmen unbedingt zuhören, worüber sich welche Menschen unterhalten und Meinungsmacher ihrer Branche identifizieren. Zudem können sie ihrerseits versuchen, mit diesen ins Gespräch zu kommen und sich eine Position, Reputation und Empfehlungen zu erarbeiten. Sozial angereicherte Daten werden in Zukunft aber sicher auch in ganz anderen Unternehmensbereichen an Bedeutung zunehmen, die heute erst wenige auf dem Schirm haben.

Und zwar?

Etwa in der Logistikkette. Zulieferer können Daten aus Social Media dazu nutzen, ihre Wege zu optimieren: Daten aus Wetter-Apps könnten in die Routenplanung miteinfließen und – Stichwort Internet der Dinge – dazu Informationen vom LKW selbst. Hinzukommen könnten aber genauso Informationen von Autofahrern oder Bahnreisenden, die auf einer bestimmten Strecke unterwegs sind und von einem Unfall twittern, der noch so aktuell ist, dass er in keinem offiziellen Verkehrsdienst auftaucht. Oder Infos etwa von einem sehr vollen Grenzübergang. Dieser Input muss dann nur noch von entsprechender Software intelligent in die Logistik integriert werden.

Wohin führen diese Szenarien?

In ein Zeitalter weg von der Massenkommunikation und Massenproduktion hin zu einer massenhaften individuellen Produktion und Kommunikation im jeweiligen sozialen Kontext. Von Unternehmen gesteuerte Kanäle haben dort die Deutungshoheit eingebüßt, gleichzeitig aber eine größere Marktnähe gewonnen, wenn sie sich an die neuen Prozesse anpassen. Man sieht das beispielsweise in der Reisebranche: Von den Katalogen und anderen Informationen der Anbieter wechselten die Informationen zu Reiseportalen und werden von dort mit Sicherheit weiter individualisiert werden.

Und was sind die Konsequenzen daraus für Unternehmen?

Vor allem, dass sie verstehen müssen, dass soziale Medien eben kein „weiterer Kanal“ in der Kommunikation sind. Sondern sie bilden vernetzte Rahmenbedingungen, in denen sich Unternehmen neu zurechtfinden müssen, weil oft das gesamte Geschäftsmodell und die eigene Rolle tangiert sind. Weiterhin, dass dies nichts mit klassischer Werbung zu tun hat. Social Media bedürfen einer ganzheitlichen Betrachtung und sollten in sämtliche Unternehmensprozesse miteingebunden werden, um auf diese Weise näher am Markt zu sein. Dafür braucht es aber neue intern vernetzte Strukturen über Social Media Listening-Systeme, angepasste Kennzahlen für Interaktion statt Reichweite und eine Ausrichtung der Unternehmenskultur auf „Zuhören und Einbindung“. Erst dann können Social Media als Steuerungsinstrument integriert und Echtzeit-Information für schnellere und bessere Entscheidungen für den Markt genutzt werden – die wahre Chance eines Wettbewerbsvorteils, den Unternehmen bei Stichworten Social Media und Digitale Transformation vor Augen haben sollten. Aus weitgehend isolierten Wertschöpfungsketten werden somit intern und extern übergreifende Wertschöpfungsnetzwerke.

… und wenn Unternehmen das nicht tun und Social Media nicht ernst nehmen?

… werden sie eventuell erleben, dass ihnen neue Player, die eben ihren Kunden zugehört haben, ihr Geschäft wegnehmen, weil ganzheitlich vernetzte Märkte Prozesse ganzer Branchen grundlegend neu definieren. Google hat sich sicher nicht grundlos eine Banklizenz erworben, und Dienste wie Uber oder Airbnb definieren nicht nur das Zusammenfinden von Angebot und Nachfrage neu, sondern schaffen durch Einbindung früherer Nutzer neue Anbieter, die bereits heute Taxifahrern oder Hotels weltweit schwer zu schaffen machen.