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Interview mit Dr. Oliver Bohl, Director Digital Business Development bei PAYBACK

Ozzy Osbourne und Prinz Charles: Wo klassische Segmentierung an ihre Grenzen stösst

Dr. Oliver Bohl ist (bis 2016) Director Digital Business Development bei der PAYBACK GmbH. Er beschäftigt sich intensiv mit der Digitalisierung des Marketings und weiß, welche Trends Marketeers unbedingt auf dem Schirm haben müssen.

Herr Bohl, im Zeitalter der Digitalisierung und des Erkenntnisgewinns aus Daten: Existiert da überhaupt noch das Phänomen: „Der Kunde, das unbekannte Wesen …“?

Absolut. Der Kunde ist weiterhin überall und nirgends. Ein rein digitaler Konsument ist noch nicht existent und ein Trugbild, denn 85 bis 90 Prozent des Umsatzes geschehen weiterhin im klassischen Offline-Geschäft. Es vermengt sich zwar viel, aber immer noch müssen Fragen geklärt werden wie: Wann ist der Kunde erreichbar? Wie will er erreicht werden? Er ist und bleibt keine leichte Beute für den Marketeer …

… hat sich denn so gar nichts geändert?

Doch, der Konsument ist mittlerweile taub gegenüber plumper Werbung, ist mündiger geworden, kann unterscheiden zwischen echter Information und reiner Verkaufe. Und er fordert Relevanz ein. Als Indiz brauchen Sie nur auf Deutschlands Briefkästen zu schauen, allerorts prangt hier ein „Keine Werbung!“-Aufkleber. Deshalb ist es auch umso wichtiger für das Marketing, jeden Kontaktpunkt in Echtzeit zu verstehen. Ganz gleich, ob dieser offline im Ladengeschäft oder mobil online im Smartphone vorhanden ist.

Die Rahmenbedingungen haben sich demnach weiterentwickelt. Hat sich aber dadurch auch der Kunde als Mensch gewandelt?

Da hilft ein Blick in die Geschichte. Nehmen Sie die klassische „Tante Emma“. Vom Eintritt ins Geschäft bis zur Zahlung und eventuell sogar bis zur Stundung des Betrags kannte man sich. Jetzt aber haben wir die Herausforderung der kundenspezifischen Massenproduktion zu bewältigen. Produkte und Dienstleistungen werden immer individueller, genauso wie die Zielgruppen, für die sie gemacht werden. Und mit der klassischen Segmentierung nach demografischen Daten kommen Sie heute nicht mehr weit. Wenn Sie in London nach der Zielgruppe „über 40, männlich“ suchen, können sie theoretisch sowohl bei Ozzy Osbourne als auch bei Prinz Charles rauskommen. Deshalb stoßen sich ja auch so viele Verbraucher am Re-Targeting, was ihnen zu ungeschliffen daherkommt.

Stattdessen?

… benötigen wir einen holistischen Ansatz, die 360-Grad-Sicht auf den Kunden.

Aber wie soll sich ein mittleres Unternehmen diese Kundensicht leisten können? Steht da denn der Marketing-Aufwand noch im Verhältnis zum Ertrag?

Das funktioniert, wenn man sich einem Verbund wie dem unseren anschließt. Denn oft hilft auch das Clustern von Ergebnissen, um Affinitäten und Korrelationen herauszufinden. Da braucht es gar nicht den granularen Blick. Wir haben beispielsweise festgestellt, dass die Zielgruppe, die sich für den teuersten Kraftstoff an der Tankstelle entscheidet, ebenfalls eine hohe Affinität zu Bio-Lebensmitteln hat.

Um solche Merkmale gezielt zu eruieren, rückt die Customer Journey momentan sehr intensiv in den Fokus. Warum?

Weil sie sehr aufschlussreich ist – aber nur dann, wenn man wirklich keine Segmente auslässt. Die uninformierten Kunden nehmen stetig ab. Man muss in die Betrachtung auch Online-Rezensionen etwa mitaufnehmen und jede andere Art von Online-Feedback. Ebenso spielt der bekannte ROP-Effekt eine Rolle, also „Research Online, Purchase Offline“ beziehungsweise „Research Offline, Purchase Online“. Amazon überlegt ja nicht grundlos Offline-Dependancen zu eröffnen, man möchte sich eben keine Kunden wegschnappen lassen. Mitunter wird aber das nutzungsübergreifende Kundenerlebnis in der Customer Journey noch zu stiefmütterlich behandelt.

Was heißt das im Detail?

Oftmals vergessen Unternehmen die Kontext-Interpretation, das heißt, in welchem Kontext der Kunde agiert. Viele denken nur bis zum ersten Check-out, aber dann geht es ja weiter. Wenn ein Haushalt beispielsweise aufhört Windeln zu kaufen, dann sollte man sich als Händler intensiv mit Artikeln des Kindergarten-Alters beschäftigen. Oder ein anderes Beispiel: Wenn in Familien plötzlich kein Kleintierfutter mehr gekauft wird, wächst oft stattdessen der Bedarf an Prepaid-Karten. Eine logische Konsequenz: Aus Kindern, die sich gestern noch ausschließlich für ihr Meerschweinchen interessiert haben, werden Jugendliche, die das Interesse am anderen Geschlecht entdecken und sich ohne Einmischen der Eltern unterhalten möchten. Alles ganz normale Vorgänge.

Folglich zählt aus ihrer Sicht eine möglichst nahtlose Nutzererfahrung. Welche Rolle spielen da Beacons und andere zukunftsweisende Technologien?

Aus meiner Sicht sind diese Dinge nicht nur zukunftsweisend sondern auch zukunftstauglich, etwa in der Instore-Lokalisierung. Das ermöglicht uns eine ganz neue Qualität, den Nutzer zu verstehen. Hat sich der Käufer, beispielsweise durch eine App, beim Betreten des Baumarktes zu erkennen gegeben, können wir ihn in einer ganz anderen Qualität ansprechen. Gezielt und mit Informationen, die tatsächlich auf seinen Bedarf zugeschnitten sind.

Aber der Weg geht ja auch in eine andere Richtung: Was sind denn diejenigen Informationen, die Unternehmen gerne über ihre Kunden hätten?

Die von Ihnen angesprochene Customer Journey gehört auf jeden Fall dazu. Man kann dabei von dem so genannten Connected Commerce sprechen: Wie springt der Kunde sozusagen von einem Verkaufspult zum nächsten? Wie läuft die Verbindung vom Web zum Smartphone? Wie gestalte ich meine „Bricks-and-Clicks“-Strategie richtig, also die Nahtstelle zwischen Offline- und Online-Kanal? Hier Vorlieben und Gewohnheiten des Kunden zu kennen, ist für Unternehmen entscheidend.

Sie sprechen damit eine ganzheitliche Informationsebene an. Unvollständige Kundenprofile und die Schwierigkeit, Kampagnen geräte- und kanalübergreifend auszuspielen, sind jedoch Probleme, die viele Marketingverantwortliche beklagen. Haben die etwa diese Herausforderungen bislang ignoriert?

Das würde ich nicht sagen, denn teilweise standen ihnen die notwendigen Informationen dafür gar nicht zur Verfügung. Ein adäquates Kunden-Tracking zu erzielen, sehe ich heutzutage als nicht problematisch an. Mittel und Wege sind vorhanden. Man muss nur die technischen Möglichkeiten dafür schaffen.

… hat denn der Digital-Boom dazu beigetragen, dass sich das Denken der Marketeers ändert?

Definitiv, ja! Daten auszuwerten, damit zu kalkulieren, das hat nun auch im Marketing gegriffen. Big Data gehört heute in jede Kampagnengestaltung, damit die Kampagnen auch tatsächlich wirken können. Dadurch wird alles unmittelbarer. Die American Marketing Association hat ja den Spruch geprägt „From Mad Men to Math Men” – dem schließe ich mich voll umfänglich an.